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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der Staat und sein »Wohl«

Der Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te Kon­stan­tin von Notz (Grü­ne) hat Erfah­rung in der Arbeit von par­la­men­ta­ri­schen Kon­troll­gre­mi­en. Er beklagt die Pra­xis der Bun­des­re­gie­rung, unter Ver­weis auf das »Staats­wohl« Aus­künf­te zu ver­wei­gern: »Die Offen­le­gung der erfrag­ten Infor­ma­tio­nen wür­de das Staats­wohl in beson­ders hohem Maß beein­träch­ti­gen.« So ver­hin­dern von der Bevöl­ke­rung bezahl­te Funk­tio­nä­re der Exe­ku­ti­ve die Auf­klä­rung von Staats­af­fä­ren. Den Abge­ord­ne­ten wird so eine wirk­sa­me Kon­trol­le von Regie­rung und Geheim­dien­sten unmög­lich gemacht.

Ver­wei­gert wur­den und wer­den etwa Aus­künf­te zur Über­wa­chung durch den US-ame­ri­ka­ni­schen Geheim­dienst NSA, die 2013 von Edward Snow­den auf­ge­deckt wur­de. Wäh­rend sich die deut­sche Regie­rung zum Opfer sti­li­sier­te, sicker­te nach und nach durch, dass auch der deut­sche Bun­des­nach­rich­ten­dienst BND aktiv dar­an betei­ligt war. Was die deut­sche Öffent­lich­keit erfah­ren durf­te, bestimm­ten die betrof­fe­nen Geheim­dien­ste; unzäh­li­ge Sei­ten wur­den aus den Akten ent­fernt. Wer kon­trol­liert den Geheim­dienst? Offen­sicht­lich agiert der Dienst frei von allen demo­kra­ti­schen Fesseln.

In aller Klar­heit hat­te der dama­li­ge Staats­se­kre­tär im Bun­des­in­nen­mi­ni­ste­ri­um, Klaus-Die­ter Frit­sche, die Grund­la­ge die­ser Pra­xis for­mu­liert: »Es dür­fen kei­ne Staats­ge­heim­nis­se bekannt wer­den, die ein Regie­rungs­han­deln unter­mi­nie­ren.« Nach die­sem Ver­ständ­nis legen die Geheim­dien­ste selbst fest, was dem Staats­wohl dient – und eta­blie­ren damit hin­ter einer for­mal­de­mo­kra­ti­schen Fas­sa­de einen »tie­fen Staat«. Unter­sucht man wei­te­re klan­de­sti­ne Aktio­nen staat­li­cher Insti­tu­tio­nen, lässt sich der Ver­dacht erhärten.

Beson­ders ekla­tant war die koor­di­nier­te, mit allen Tricks und ille­ga­len Akten staat­li­cher Stel­len betrie­be­ne Ver­tu­schung und Ver­ne­be­lung rund um die Mor­de der ras­si­sti­schen Ter­ror­grup­pe NSU. Inzwi­schen ist bekannt, dass die Täter engen Kon­takt zu V-Leu­ten des Bun­des­am­tes für Ver­fas­sungs­schutz (BfV) pfleg­ten. Was sie aber an Infor­ma­tio­nen gelie­fert hat­ten, wur­de direkt nach der Ent­tar­nung der Mör­der im BfV geschred­dert. Die Mor­de hät­ten wahr­schein­lich ver­hin­dert wer­den kön­nen, wenn die staat­li­chen Instan­zen das gewollt hät­ten. Statt­des­sen wur­de von ihnen alles getan – Akten ver­nich­ten, Nazi-Netz­wer­ke begün­sti­gen, Nach­rich­ten­sper­re für 120 Jah­re ver­hän­gen –, um Spu­ren zu ver­wi­schen, Auf­klä­rung zu erschwe­ren, das Netz­werk abzu­schir­men und eine juri­sti­sche Auf­ar­bei­tung zu ver­hin­dern. Auch hier hat sich das BfV beson­ders her­vor­ge­tan. Wohl­ge­merkt: Es han­delt sich nicht um »Staats­ver­sa­gen«, wie häu­fig kri­ti­siert wird, son­dern um das kon­zer­tier­te Zusam­men­wir­ken staat­li­cher Insti­tu­tio­nen zur Ver­tu­schung von Verbrechen.

Auch der Unter­su­chungs­aus­schuss zum Ber­li­ner Ter­ror­an­schlag am Breit­scheid­platz bemüht sich ver­geb­lich um Auf­klä­rung. Hier muss die »Funk­ti­ons­fä­hig­keit der Nach­rich­ten­dien­ste als Belang des Staats­wohls« her­hal­ten, um sach­dien­li­che Aus­sa­gen zu ver­hin­dern. Da wird aber gewiss das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt ein­schrei­ten, denkt der demo­kra­tisch gesinn­te Staats­bür­ger und die -bür­ge­rin – und wer­den sogleich ent­täuscht: Die­ses bestä­tig­te näm­lich vor weni­gen Wochen, dass das par­la­men­ta­ri­sche Auf­klä­rungs­in­ter­es­se hin­ter dem Staats­wohl zurück­tre­ten muss. Schon 2017 hat­te es in einem Urteil zum Okto­ber­fe­stat­ten­tat 37 Jah­re zuvor geur­teilt: Die Bun­des­re­gie­rung darf »Aus­künf­te zum Ein­satz ver­deckt han­deln­der Per­so­nen in der Regel mit dem Hin­weis auf eine Gefähr­dung des Staats­wohls (…) verweigern«.

Glaubt jetzt noch jemand, dass der Fall des von deut­schen Geheim­dien­sten geschütz­ten rus­si­schen Putin-Kri­ti­kers und Opfers eines Gift­an­schla­ges Nawal­ny, der im Schwarz­wald mit finan­zi­el­ler Unter­stüt­zung aus den USA einen Pro­pa­gan­da­film gegen den rus­si­schen Prä­si­den­ten dre­hen konn­te, auf­ge­klärt wer­den darf? Alle Anfra­gen dazu wur­den in wesent­li­chen Punk­ten abge­bü­gelt: »Gefähr­dung des Staats­wohls, Risi­ko des Bekannt­wer­dens nicht hin­nehm­bar, sicher­heits­re­le­van­te Infor­ma­tio­nen, berech­tig­te Geheim­hal­tungs­in­ter­es­sen« – alles Zita­te aus regie­rungs­amt­li­chen Ant­wor­ten. Befremd­lich, wenn man bedenkt, dass genau sol­che Metho­den dem System Putin unter­stellt werden.

Gut­gläu­bi­ge könn­ten ein­wen­den: Der demo­kra­ti­sche Staat hat nun mal Fein­de, die vor Gewalt und Ter­ror nicht zurück­schrecken. Die pla­nen und ope­rie­ren im Gehei­men und kön­nen nur mit geheim­dienst­li­chen Mit­teln an ihrem ver­bre­che­ri­schen Tun gehin­dert wer­den. Jede Infor­ma­ti­on über das Vor­ge­hen der V-Leu­te könn­te die­se wie auch ihre Abwehr­ak­tio­nen gene­rell gefährden.

Selbst Aus­künf­te über Jahr­zehn­te zurück­lie­gen­de Geheim­dienst­ak­ti­vi­tä­ten wer­den mit die­sem Argu­ment ver­wei­gert. Ein Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ter der Links­par­tei hat­te 2018 nach der Zusam­men­ar­beit des BND mit der Obri­sten­dik­ta­tur in Grie­chen­land (1967-1974) gefragt. Ergeb­nis: Kei­ne Aus­kunft wegen Staats­wohl, sie könn­te den Inter­es­sen der Bun­des­re­pu­blik scha­den. Auch zur Pino­chet-Dik­ta­tur und zu den BND-Kon­tak­ten zum chi­le­ni­schen Geheim­dienst wur­de jede Aus­kunft ver­wei­gert. Zum bereits erwähn­ten Okto­ber­fe­stat­ten­tat hat­te die Bun­des­re­gie­rung 35 Jah­re lang Akten geheim gehal­ten, Auf­klä­rung ver­hin­dert, die Ver­nich­tung wich­ti­ger Indi­zi­en gedeckt – um die Ver­wick­lung der Geheim­dien­ste und der Poli­tik in rechts­extre­me Ter­ror­grup­pen (Wehr­sport­grup­pe Hoff­mann und NATO-Geheim­ar­mee Gla­dio) zu verheimlichen.

Hier wird offen­sicht­lich: Die Leug­nung von rech­tem Ter­ror in Deutsch­land dient eben­so dem Staats­wohl wie die Unter­stüt­zung für rech­ten Ter­ror im Aus­land. Es geht also nicht (nur) um Gefähr­dung der aktu­el­len Ope­ra­tio­nen. Gedeckt wer­den viel­mehr anti­de­mo­kra­ti­sche, rech­te Aktio­nen, die nicht bekannt wer­den dür­fen. Wel­chen Zie­len also die­nen eigent­lich die Geheim­dien­ste? Ein Blick zurück mag dies offen­ba­ren. Zur sel­ben Zeit, als die KPD, also die Par­tei, die den Faschis­mus von Anfang an am hef­tig­sten bekämpft hat­te, ver­bo­ten wur­de (1956), sind die Geheim­dien­ste auf­ge­baut wor­den: Der BND von Rein­hard Geh­len, einem Gene­ral­ma­jor der Wehr­macht und als Chef der Nazi-Abtei­lung Frem­de Hee­re Ost für größ­te Ver­bre­chen ver­ant­wort­lich. Er führ­te den BND zwölf Jah­re lang und sorg­te für die Rekru­tie­rung wei­te­rer Nazis – eben­so wie Hubert Schrüb­bers, von 1955 bis 1972 Prä­si­dent des Bun­des­am­tes für Ver­fas­sungs­schutz, davor Kar­rie­re in SA und SS und als Nazi-Ober­staats­an­walt. Und auch Ger­hard Wes­sel passt opti­mal in die Faschi­sten­rie­ge. Er hat­te gegen Kriegs­en­de die Füh­rung der Frem­de Hee­re Ost von Geh­len über­nom­men, bau­te dann die Bun­des­wehr mit auf und über­nahm die Lei­tung des Mili­tä­ri­schen Abschirm­dien­stes MAD. Erwähnt wer­den muss in die­sem Zusam­men­hang, dass zahl­rei­che hoch­ran­gi­ge Nazis nach dem Krieg dem US-Geheim­dienst CIA dien­ten, wie etwa der Gesta­po-Chef Franz Josef Huber, der als SS-Gene­ral und Kom­pli­ze von Adolf Eich­mann Zehn­tau­sen­de Juden in den Tod geschickt hat, um dann 20 Jah­re lang der CIA und dem BND zu die­nen – gegen den Kom­mu­nis­mus. Bis zu sei­nem Tod leb­te er unbe­hel­ligt in Mün­chen und bezog Ren­te (Report Mün­chen berich­te­te am 6.4.21).

Doch hat sich dar­an über die Jahr­zehn­te nicht doch etwas geän­dert? Zwei­fel tau­chen auf, wenn man weiß, dass etwa Hans-Georg Maa­ßen, der Ex-Prä­si­dent des BfV, sich nicht nur stramm rechts äußert und gegen Pres­se und Par­la­ment hetzt (»Sicher­heits­ri­si­ko«), son­dern nach­weis­lich auch Rechts­extre­me begün­stigt hat (vgl. die Auf­li­stung kri­ti­scher Vor­fäl­le bei Wiki­pe­dia). Oder Klaus-Die­ter Frit­sche, der eine erfolg­rei­che Kar­rie­re hin­ge­legt hat als Vize­prä­si­dent des BfV (1996-2005), Koor­di­na­tor der Geheim­dien­ste im Bun­des­kanz­ler­amt (bis 2009), dann Staats­se­kre­tär im Bun­des­in­nen­mi­ni­ste­ri­um. Danach betä­tig­te er sich als Bera­ter des rech­ten FPÖ-Innen­mi­ni­sters in Öster­reich und als Lob­by­ist des kri­mi­nel­len Wire­card-Finanz­kon­zerns. Den NSU-Unter­su­chungs­aus­schuss bezich­tig­te er des »Skan­da­li­sie­rungs­wett­be­werbs« und ver­wei­ger­te jede Kooperation.

Zahl­rei­che Par­la­men­ta­rie­rIn­nen zie­hen eine bit­te­re Bilanz aus den Geheim­dienst­skan­da­len NSA, NSU und Ber­lin-Atten­tat (B.-I. Hoff, H. Kleff­ner, M. Pichl, M. Ren­ner (Hrsg.): Rück­halt­lo­se Auf­klä­rung? NSU, NSA, BND – Geheim­dien­ste und Unter­su­chungs­aus­schüs­se zwi­schen Staats­ver­sa­gen und Staats­wohl. VSA 2019). Bun­des­nach­rich­ten­dienst, Bun­des­amt und Lan­des­äm­ter für Ver­fas­sungs­schutz kön­nen nicht kon­trol­liert wer­den. Sie stel­len sich über Ver­fas­sung und Geset­ze und wer­den dabei von staat­li­chen Insti­tu­tio­nen gedeckt. Die Liste allein ihrer auf­ge­deck­ten Taten ist einer kri­mi­nel­len Ver­ei­ni­gung wür­dig: Anstif­tung zu Straf­ta­ten, Geheim­nis­ver­rat, Straf­ver­ei­te­lung, Unter­drückung von Beweis­mit­teln; sie miss­ach­ten Men­schen­rech­te, täu­schen und belü­gen die Öffent­lich­keit und das Par­la­ment. Sie behin­dern die Auf­deckung, ver­nich­ten und schwär­zen mas­sen­wei­se Akten. Die Bun­des­an­walt­schaft hilft beim Ver­tu­schen, das Bun­des­in­nen­mi­ni­ste­ri­um blockt die Auf­klä­rung von Mor­den, und das BfV gibt Poli­ti­kern Hand­rei­chun­gen, um das »Hoch­ko­chen der The­ma­tik« (Skan­da­le) zu unterbinden.

Die Ver­wei­ge­rung der Auf­klä­rung, das Belü­gen des Par­la­ments und der Öffent­lich­keit wie das Negie­ren des Rechts­ter­rors gel­ten als Staats­rä­son. Wie ist es mög­lich, dass staat­li­che Insti­tu­tio­nen über V-Leu­te Bei­hil­fe zu schwer­sten Straf­ta­ten lei­sten und die Auf­klä­rung auch noch Jahr­zehn­te spä­ter mit allen Mit­teln boy­kot­tie­ren? Die Rechen­schafts­be­rich­te aus den Unter­su­chungs­aus­schüs­sen las­sen kei­nen ande­ren Schluss zu: Geheim­dien­ste sind Instru­men­te poli­ti­scher Herr­schaft. Die erwähn­ten Fäl­le las­sen die Über­schnei­dun­gen zwi­schen der poli­ti­schen Ideo­lo­gie von Rechts­ter­ro­ri­sten und einer rechts­kon­ser­va­ti­ven Macht­eli­te erken­nen. Was bedeu­tet denn der per­ver­se Euphe­mis­mus »Staats­wohl« ande­res, als dass die Wür­de des Men­schen und die Geset­ze nichts gel­ten, wenn es um »höher­wer­ti­ge« Inter­es­sen geht?

Es scheint über­flüs­sig zu beto­nen: »Staats­wohl« ist kei­ne Ver­fas­sungs­norm, son­dern ähn­lich wie die »frei­heit­lich demo­kra­ti­sche Grund­ord­nung« ein poli­ti­scher Kampf­be­griff, der von der Regie­rung mit dem Anschein von Ver­fas­sungs­rang nach poli­ti­scher Oppor­tu­ni­tät genutzt wird. Die höch­ste Norm des Grund­ge­set­zes, die Wür­de des Men­schen, wird durch den »Wert« Staats­wohl ersetzt. So mutiert der »Staat des Kapi­tals» (Johan­nes Agno­li) zum höch­sten schüt­zens­wer­ten Gut. Damit wird der Geist der Ver­fas­sung in sein Gegen­teil ver­kehrt. Sie ist, als Reak­ti­on auf die Kata­stro­phe des Faschis­mus, in erster Linie erdacht wor­den, um die Men­schen vor dem Staat zu schüt­zen. Nicht umgekehrt.

In einem System aber, in dem Geheim­dien­ste das Staats­wohl bestim­men und sich gegen Kon­trol­le und Kri­tik abschir­men, ist nicht der Staat für die Men­schen da, son­dern die­se für den Staat, des­sen Macht­eli­te und deren Inter­es­sen. Und auch die Kri­tik an den Vor­gän­gen führ­te nicht zu einer Demo­kra­ti­sie­rung, im Gegen­teil. Nach allen gro­ßen Skan­da­len folg­te eine Aus­wei­tung des Per­so­nals und der Befug­nis­se der Geheim­dien­ste, ihre Straf­ta­ten wur­den teil­wei­se lega­li­siert. Dage­gen muss aus einem demo­kra­ti­schen Ver­ständ­nis die Abschaf­fung der Geheim­dien­ste gefor­dert wer­den. Wenn ent­hemm­te Geheim­dien­ste Fein­de ins Visier neh­men und für ein selbst defi­nier­tes Staats­wohl arbei­ten, wird es für die Men­schen gefährlich.